Quentin Tarantinos Augen leuchten, als sei er drei Jahre alt und habe gerade den leibhaftigen Weihnachtsmann gesehen. Gerade wohnte er der Verleihung des amerikanischen Fernsehpreises Emmy bei, wo er in der Kategorie „Beste Regie in einer Drama-Serie“ für die CSI-Folge „Grabesstille“ nominiert war. Eine aufgetakelte Reporterin eines nur marginal bedeutenden Entertainmentmagazins fragt ihn, was der Unterschied zwischen den Emmys und den Oscars sei. Der Oscar-Preisträger schaut, als könne er die Frage nicht verstehen. Die Oscars seien für ihn ja eine Arbeitsveranstaltung, erklärt er ganz selbstverständlich. Die Emmys aber seien die Erfüllung eines Traumes. Es sei einfach unglaublich, seine ganzen Idole aus dem Fernsehen mal in der Realität zu sehen. In diesem Moment wird er abgelenkt, weil er Tony Shalhoub erblickt, den Hauptdarsteller aus Monk. Tarantino winkt aufgeregt.
Einige Jahre zuvor war Quentin Tarantino zum ersten Mal Anthony Zuiker begegnet. Tarantino checkte im Mirage-Hotel in Las Vegas ein und gab Zuiker, der an der Rezeption arbeitete, 20 Dollar Trinkgeld. Zuiker war damals außerdem Fahrer der kleinen Bimmelbahn, die Gäste zum nächsten Hotel und Casino brachte. Heute ist Zuiker der Produzent der erfolgreichsten Fernsehmarke der Welt, CSI.
Schüchtern trat Zuiker an Tarantino heran, als er diesem bei einem Benefizempfang ein zweites Mal über den Weg lief, um ihm zu erklären, wer er sei. Tarantino erinnerte sich zwar nicht an die Begegnung im Hotel, schüttelte aber zu Zuikers völliger Verblüffung sofort die Namen der CSI-Charaktere aus dem Ärmel und begann Dialogfetzen aufzusagen.
Einige Zeit später schrieb er seine eigene Idee für eine CSI-Geschichte auf: Spurensicherer Nick Stokes (George Eads) wird entführt und bei lebendigem Leib begraben. Der Entführer legt ihm eine Waffe in den Sarg mit dem Hinweis, er solle sich am besten gleich erschießen, sterben werde er ohnehin. Eine Webcam überträgt Nicks Leiden zu seinen Kollegen, für die der obligatorische Wettlauf mit der Zeit beginnt.
Bei der Erstausstrahlung im Mai 2006 erreichte die CSI-Doppelfolge „Grabesstille“ die höchste Einschaltquote in der Geschichte des Senders Vox und bewog RTL dazu, die Serie zu stehlen. Heute wiederholt RTL diese beiden Folgen. Eine Stunde früher als damals, aus Jugendschutzgründen also vermutlich mit einigen Schnitten.
Es ist nicht die erste Fernseharbeit des Fernsehfans Tarantino. 2002 und 2004 spielte er in mehreren Folgen der Serie Alias mit, Gerüchte hielten sich damals, Tarantino sei bereit gewesen, Geld zu bezahlen, nur um mitspielen zu dürfen. 1995 führte er Regie bei einer Folge von Emergency Room. Und 1988, wie er sich nicht zierte, während der Emmy-Verleihung auf der Bühne noch einmal zu betonen, spielte er einen Elvis-Imitator bei den Golden Girls.
„Grabesstille“ ist aber Tarantinos bemerkenswerteste Fernseharbeit, hat sie doch am meisten von dem, was ihn im Kino berühmt machte. Also mit Blutfontänen und Körperteilen, die auch mal losgelöst von ihrem Besitzer eine Rolle spielen. Mal sehen, was davon übrig bleibt. Um 20.15 Uhr, also eine Stunde früher als sonst, zeigt RTL die für die deutsche Primetime zurechtzensierte kinderfreundliche Version, um 0.35 Uhr die ungekürzte.
Während der Arbeit an „Grabesstille“ kamen sich beide Seiten entgegen – ohne je weit voneinander entfernt gewesen zu sein: Tarantino habe CSI schon beim Start entdeckt und sei sofort ein Fan gewesen, bevor die Masse des Publikums die Serie erst allmählich fand und zum Hit machte. Und Anthony Zuiker habe sowieso nur wegen Tarantinos „Pulp Fiction“ den Weg ins Showgeschäft gewählt, schmachteten sie sich gegenseitig an. Speziell für Tarantino wurde die CSI-Staffel kurzerhand verlängert: Waren bis dato 23 Folgen pro Jahr die Regel, wurden nun gleich zwei zusätzliche produziert und am Stück ausgestrahlt, damit sich Tarantino in Spielfilmlänge austoben konnte. Dieser nutzte die Gelegenheit für einen ausgiebigen Spannungsaufbau, ein paar ausführliche Dialoge abseits des sonst so straffen Rasters und eine grandiose surreale komödiantische Einlage in der zweiten Hälfte. Tarantino wollte so etwas wie einen Spielfilm schaffen, nahm sich aber zugleich vor, nicht mehr Zeit darauf zu verwenden als jeder andere Regisseur, der bis dahin für CSI gearbeitet hatte – immerhin zwei Dutzend Männer und eine Frau.
Es ist ihm gelungen. Die netto knapp 85-minütige CSI-Folge „Grabesstille“ ist ein äußerst spannender Thriller geworden, bei dem das Sitzpolster des Zuschauers überdurchschnittliche Abnutzung verkraften muss. Das oft hastige Produktionstempo einer wöchentlichen Serie merkt man dieser Doppelfolge nicht an. Stattdessen spürt man Tarantinos Verehrung für die Serie, baut er doch zur Entzückung der Fans mehrere Gimmicks ein, die schon früher eine Rolle spielten. Zugleich schafft er einen auch einen verständlichen Fernsehabend für alle, die CSI bisher vielleicht noch nie gesehen haben (gibt’s das?). Und wer diese Folge beim ersten Mal verpasst hat, sollt diesen Fehler heute nicht noch einmal machen.
Nur den Emmy gewann Tarantino an jenem Abend im Sommer 2005 dann doch nicht. Aber eine größere Freude als die pure Teilnahme hätte ihm das ohnehin nicht bereiten können. Nie schien der olympische Gedanke so wahr.
Michael, 30. August 2007, 07:06.