Das große Geschichtsklittern mit Jörg Pilawa
Jörg Pilawa hat dem Online-Medienmagazin DWDL ein langes, zorniges Interview gegeben, dessen Aussagen sich ungefähr in einem Satz zusammenfassen lassen: Alle außer mir machen nur Kacke.
Meine Lieblingsstelle ist diese:
Aber auch die Talksendungen haben sich verändert. Ich habe vor kurzem ins Archiv geguckt: Was waren unsere ersten Themen beim Daily Talk? Eine meiner ersten Sendungen war ein Interview mit einer zu lebenslanger Haft verurteilten Frau. Das war ein ruhiges, reflektiertes Gespräch. Liefe das heute in der ARD, würde sich niemand an den Kopf greifen und „Oh Gott, Daily Talk!“ aufjaulen. Wenn ich heute in eine tägliche Talkshow schaue, sehe ich ins Zahnlose. Da sitzen nur noch die „Schlampen“ und „Sozialschmarotzer“. Solche Sendungen haben wir früher nicht gemacht! Da hätten uns die Landesmedienanstalten sofort verboten! Wir waren deutlich harmloser.
Das ist ja interessant.
Pilawas erste Sat.1-Talkshow am 19. Januar 1998 hatte das Thema „Mein Kind ist fett — ich schäme mich so“.
Weitere Höhepunkte seiner Sendung, die morgens um 11 Uhr ausgestrahlt wurde, waren in den folgenden zwölf Monaten:
- Frauen sind dümmer als Männer! — Ich kann’s beweisen (20.1.1998)
- Unsere Welt — ich kann sie nur im Suff ertragen (5.2.1998)
- Mami, warum gehst du auf den Strich? (13.2.1998)
- Starr nicht auf meinen Busen — Ich hab auch ein Gesicht! (17.2.1998)
- Liebling, was hast du gegen Pornos? Guck doch einfach mit! (25.2.1998)
- Dicke in Dessous — das will ich sehen! (3.2.1998)
- Mein Nachbar nervte, da hab‘ ich zugeschlagen (4.2.1998)
- Schaut her! Ich zeig‘ mich gerne nackt (17.3.1998)
- Keiner kann mich leiden, weil ich so häßlich bin (2.4.1998)
- Schatz, kauf‘ dir endlich Strapse, dann hab‘ ich wieder Lust auf dich (16.4.1998)
- Meine Tochter ist eine Hure, ich steh‘ zu ihr (7.5.1998)
- Sex ist alles, was ich von dir will (12.5.1998)
- Nur Groupie? Ich will ein Kind von einem Star! (15.5.1998)
- Ich laß‘ nur dicke Frauen in mein Bett (8.6.1998)
- Zeig‘ mir deinen Körper und ich sag‘ dir, ob ich dich will (18.6.1998)
- Wenn du mit dem Fressen nicht bald aufhörst, verlasse ich dich (3.9.1998)
- Dir sollte man die Kinder wegnehmen (9.9.1998)
- Vergiß das Kleid – dafür bist du zu dick (23.9.1998)
- Mein Busen ist mein ganzer Stolz (30.9.1998)
- Für meine Karriere treib‘ ich ab (5.10.1998)
- Ich schäme mich: Die Nacht mit dir ist mir peinlich (26.10.1998)
- Schämst du dich nicht? Er ist doch viel zu alt für dich (11.12.1998)
- Schatz, ich halte es nicht mehr aus: Ich will getrennte Betten (21.12.1998)
- Du bist eine Schande für unsere Familie (4.1.1999)
Historisch (und psychologisch) bemerkenswert auch, dass Pilawa neben den „Schlampen“ ausgerechnet die „Sozialschmarotzer“ als Erkennungsmerkmal heutiger schlimmer Talkshows ausgemacht hat — im Gegensatz zu den harmlosen Zeiten damals. Bereits in der zweiten Sendewoche lautete das Thema seiner Show: „Laßt mich in Ruhe – Ich will nicht arbeiten“. Es folgten u.a.:
- Sozialschmarotzer! Für euch zahl‘ ich nicht mehr (2.3.1998)
- Wozu arbeiten? Ich werde lieber Mutter und kassier‘ das Kindergeld (4.6.1998)
- Hausfrauen sind doch zu faul zum Arbeiten (16.6.1998)
- Laßt mich in Ruhe — ich will nicht arbeiten (8.7.1998)
- Du liegst mir auf der Tasche — such‘ dir endlich einen Job (22.10.1998)
- Wer heutzutage noch arbeitet, ist zu dumm, Sozi zu kassieren (2.11.1998)
Übrigens war Anlass des Interviews mit Pilawa ein Geschichtsbuch, das er geschrieben hat. Gegen das von ihm produzierte Fernsehquiz zum Thema, beklagt er sich, hätte die ARD viele Einwände gehabt, denn Geschichte sei für viele „ja per se etwas Trockenes, Seriöses, das muss ja wissenschaftlich untermauert und fundiert und mit Quellen belegt sein“.
Dabei muss das gar nicht sein. Man kann sie sich schon nach zehn Jahren nach Belieben zurechtklittern.
7. April 2008 um 22:22
[…] Herr Pilawa? Wenn Sie mir bitte kurz mal nach nebenan ins „Fernsehlexikon” folgen möchten? Hier geht’s lang. […]
7. April 2008 um 22:23
Das liest sich wie eine studivz-Gruppenliste.
7. April 2008 um 22:34
@sebastian: Genau dasselbe hab ich mir auch gedacht! 😀
7. April 2008 um 23:54
[EDIT: gelöscht.]
8. April 2008 um 00:16
Geschichte wird immer von den Gewinnern geschrieben. Und wenns niemanden interessiert, wer nun gewonnen hat, dann kann man ja trotzdem ein bisschen einseitige Geschichtsschreibung andenken…
8. April 2008 um 00:33
[…] Aufklärungsarbeit zu leisten, kann er nicht leugnen (was er aber allem Anschein nach dennoch tut), lässt sich an der Themenübersicht im Fernsehlexikon nachvollziehen, ein wirklich netter Eintrag zum gleichen […]
8. April 2008 um 04:49
Wo bekommt man denn heute noch die Titel der einzelnen Sendungen von 1998? Hast du ein privates Archiv von Fernsehzeitungen oder wo kann man sowas im Netz finden?
8. April 2008 um 08:54
[…] Das große Geschichtsklittern mit Jörg Pilawa (fernsehlexikon.de, Stefan) Jörg Pilawa hat dem Online-Medienmagazin DWDL ein langes, zorniges Interview gegeben, dessen Aussagen sich ungefähr in einem Satz zusammenfassen lässt: Alle außer mir machen nur Kacke. […]
8. April 2008 um 09:07
Herzlichen Dank für diese Zusammenstellung!
8. April 2008 um 10:35
@Kari: Och, man hat halt so seine Quellen 😉
8. April 2008 um 10:59
Was mir gerade einfällt.
Gibt es überhaupt noch irgendwelche „Daily Talk“ Sendungen ? Es gab ja eine Zeit, da versendeten die Privaten nachmittags mehrere solcher Talksendungen hintereinander.
Dann kam das ZDF irgendwann auf die Idee mit „Streit um drei“, was wirklich gut gemacht war. Die Privaten haben dann angefangen mit ihren täglichen Gerichtsschows und haben so die täglichen Talksendungen abgelöst.
8. April 2008 um 11:11
@Erich: Deine Erinnerung trügt. Die Privaten hatten lange vor „Streit um Drei“ ihre Gerichtsshows. Und wirklich verdrängt wurde der Nachmittagstalk dadurch auch nicht.
8. April 2008 um 11:26
@Erich, Torsten: Streit um drei im ZDF war tatsächlich die erste tägliche Gerichtsshow. Sie ging am 12. April 1999 auf Sendung. Am 27. September 1999 begann Richterin Barbara Salesch. Und tatsächlich haben die Gerichtsshows den Daily Talk weitgehend verdrängt. Aktuell gibt es nur noch zwei: Oliver Geißen und Britt. RTL startet aber am 5. Mai einen neuen Versuch mit Natascha Zuraw: http://www.dwdl.de/article/news_15168,00.html
8. April 2008 um 12:44
Wer schaut denn sowas an?
Toppen kann das nur noch 9live?
Kann man oder sollte man das verbieten?
8. April 2008 um 12:50
Rückwirkend oder wie?
8. April 2008 um 14:00
[i]Wer schaut denn sowas an?[/i]
Niemand schaut so was an. Weswegen solche Programme auch schon seit Jahren auf diversen Sender laufen.
Ich warte jetzt noch kurz auf den SpOn-Foorumsleser, der „zum Glück schon seit Jahren keinen Fernseher mehr“ hat und deshalb seine komplette Freizeit für das Kommentieren in Blogs verwenden kann.
8. April 2008 um 14:17
@Motor: 🙂
8. April 2008 um 14:18
Zum Glück habe ich schon seit Jahren keinen Fernseher mehr. Die so freigewordene Zeit nutze ich zum anonymen Komentieren in Blogs.
Und wenn doch etwas kommt, das meinem Anspruch genügt, so gibt es ja noch zattoo
8. April 2008 um 14:26
Danke schön!
8. April 2008 um 16:22
[EDIT: gelöscht]
8. April 2008 um 18:57
Wunderbarer Beitrag, und weitaus lesenswerter als das eigentliche Interview mit Herrn Pilawa. Danke dafür!
8. April 2008 um 19:11
[…] Jörg Pilawa rechnet mit der ARD ab … und Stefan Niggemeier mit Jörg Pilawa […]
8. April 2008 um 21:44
Ich denke Herr Pilawa hat sich durch seinen Wechsel von einem privaten zu einem öffentlich-rechtlichen Sender zumindest geistig von einem gewissen Schmuddelimage befreit. Die Erinnerung hieran verdrängt.
Trotzdem finde ich es nicht schlecht, dass Jörg Pilawa wenigstens noch etwas kritisch dem eigenen Sender gegenüber ist, streckenweise hat er ja durchaus korrekt auf Missstände hingewiesen, wie die Versuche mit Bruce und anderen Dingen die Privaten zu kopieren. Mir wird er dadurch wenigstens noch ein wenig sympathischer als Kerner und Beckmann, die mittlerweile zu Bilderbuch-Schnarchnasen des öffentlich-rechtlichen Establishments mutiert sind.
Vielleicht wollte Pilawa aber auch nur durch einen dezenten Eklat sein Buch promoten.
8. April 2008 um 21:46
Ohweia, da überkommt einen das kalte Grauen, wenn man liest, was da so für sendenswert befunden wurde.
9. April 2008 um 00:11
Also, wenn ich hier so reingucke, dann scheint’s mir: Das war’s dann wohl mit Deiner blogstatistisch-sozialpsychologischen Absoluten von „so fünf bis sechs Kommentaren“.
9. April 2008 um 00:18
Ja. Aber das legt sich wieder.
9. April 2008 um 16:29
[…] stöbert man ein wenig im Fernsehlexikon und findet dabei diesen schönen Artikel über Herrn Pilawas Gedächtnislücken und muss dann darin diesen denkwürdigen Satz aus dem Original-Interview bei DWDL* lesen: […]
10. April 2008 um 09:31
[…] – Jörg Pilawa (witziger Fehltritt, beschrieben im Fernsehlexikon) […]
10. April 2008 um 14:01
bäh
4. Juni 2008 um 01:50
[…] auch im Kongo, jahrelang tiefe Gespräche mit Reissäcken führen, um schließlich lächelnd festzustellen, dass diese wie viele andere nicht dem eigenen […]
25. August 2008 um 21:16
Es gibt hier tatsächlich Leute, die Pilawa und Geissen auseinanderhalten können? Wenn, wie ich vermute, Geissen ein zeitversetzter Pilawa ist, dann wird er in ein paar Jahren ebenfalls öffentlich-rechtlich unterwegs sein und ähnliche Verklärung betreiben. Ich freue mich schon mal auf das entsprechende Sündenregister („Spermaquiz – Wer ist hier der Vater?“)…
30. August 2008 um 13:58
Er war jung und brauchte das Geld.
30. November 2008 um 00:13
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