1994–2005 (ARD). Tägliche Seelsorge- und Esoterik-Talkshow mit Jürgen Fliege.
Kurz nachdem RTL mit Hans Meiser das Genre der täglichen Talkshow erfolgreich nach Deutschland importiert hatte, begann die ARD eine eigene, ganz eigene Version ebenfalls jeden Werktag um 16.00 Uhr. Moderator wurde der evangelische Pfarrer Jürgen Fliege, der zuvor Kirchenbeauftragter bei Sat.1 war. Fliege spricht mit seinen meist nichtprominenten Gästen über eine große Bandbreite von Themen, am häufigsten jedoch über ihre Schicksale, die meist von einer außerordentlichen Tragik oder Dramatik sind. Weitere Schwerpunkte sind esoterische Themen wie Astrologie und Wunderheiler und eng damit verbunden die Werbung für alternative Heilmethoden jenseits der so genannten Schulmedizin. Gelegentlich gelingt es Fliege, all diese Komplexe miteinander zu verbinden, wie in der Sendung vom 22. Januar 2002 unter dem Titel: „Meine eigene Krankheit hat mich zum Heiler gemacht“. Sie hatte besonders hohe Zuschauerzahlen.
Fliege schafft es durch intensive Suggestion, die innersten Gefühle seiner Gäste aus ihnen herauszukneten. Die „Wochenpost“ schrieb, Fliege habe die seltene Gabe entwickelt, so zu „reden, dass es wie zuhören klingt“. Zum Repertoire gehören u. a. die Wiederholung des Gesagten in der Ich-Form, das abrupte Verfallen in vermeintliche Jugendsprache oder regionale Dialekte und körpersprachliche Signale wie das, sich vor die Gäste und damit unterhalb von ihnen auf den Boden oder eine Treppenstufe zu setzen. Wenn jemand erzählt: „Ich gehe jeden Tag auf den Friedhof zum Grab meiner Frau“, sagt Fliege als Nächstes: „Ich gehe jeden Tag auf den Friedhof, was erleb’ ich denn da?“ Er benutzt pseudotherapeutische Floskeln wie: „Das macht mich nachdenklich“, „Ich hab’ da eine Frage im Hinterkopf, die spiel’ ich mal nach vorne“, „Darf ich mit Ihnen traurig sein?“, „Jede Träne hat ihre zwei Seiten“ und „Sie haben ein sensibles Gesicht“. Nicht untypisch ist aber auch der Fliege-Satz: „Sein eigenes Kind wirklich zu stillen, da sind den Vätern die Brüste gebunden.“
Eine Mutter, deren jugendliches Kind durch eine Überdosis Drogen starb, begrüßte er mit den Worten: „Vielleicht ist der Sinn von Adrian, dass wir ihn nicht vergessen.“ Am Ende der Geschichte eines krebskranken Gastes sagte er: „Danke für die Emotion.“ Eine Frau, die sich für Drogenabhängige einsetzt, stellte er mit den Worten vor: „Das ist die Frau, die kämpft die Leute frei, die kämpft die Leute frei.“ In einer Sendung zum Thema „Mein größter Fehler“ fragte er einen Jungen, dessen Mutter einen Bullterrier als Haushund gekauft hatte, der ihm schwerste Bissverletzungen am Kopf zugefügt hatte: „Und wo können wir an einer Hoffnung teilnehmen?“ Eine Frau, die behauptete, aus Einsamkeit gelegentlich als Prostituierte zu arbeiten, fragte er: „Können Sie annehmen, dass Menschen Ihnen wünschen, aus dieser Sache herauszukommen, weil ihnen an Ihnen liegt?“ In einer Weihnachtssendung hatte er eine verarmte 65 jährige Frau zu Gast, die zwölf Krebsoperationen hinter sich hatte und deren Mann tödlich verunglückte, als er sie im Krankenhaus besuchen wollte. Sie sagte: „Aus diesem Loch heraus hab ich Ihnen geschrieben, Herr Fliege, Sie waren mein Strohhalm.“ Daraufhin schenkte Fliege ihr einen Strohstern vom Weihnachtsbaum in der Studiodekoration. Der exzentrische Münchner Modedesigner Rudolph Moshammer, der als Nächstes auftrat, versprach, der Frau zu Weihnachten einen Fernseher zu schenken, woraufhin Fliege Moshammer sein neues, selbstgeschriebenes Kinderbuch mit dem Titel „Alles wird gut“ schenkte.
Fliege versteht sich in der Sendung nicht als Talkmaster, sondern als Seelsorger. Er nennt sich „Missionar“, bezeichnet das Fernsehen als seine „elektronische Kirche“, fragt, ob nicht auch Jesus „ein Entertainer“ war („einer der besten“), nennt seine Show „die größte Selbsthilfegruppe“ der Nation. Im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ sagte er: „Die Menschen kommen in meine Sendung, weil sie andere Menschen an ihrem Leid und übrigens auch an ihrer Freude teilhaben lassen wollen. Sie wollen es endlich loswerden! Das ist nicht schlecht, sondern gut und völlig natürlich. Ich verdiene mein Geld nicht mit Leid, sondern mit Unterhaltung. Unterhaltung heißt, dass man unter jemanden die Hände hält.“ Fliege stellt sich am Anfang jeder Sendung vor mit dem Satz: „Ich bin Jürgen Fliege“, und entließ seine Zuschauer am Ende nicht ohne den Segen: „Passen Sie gut auf sich auf!“
Im Juni 1995 gründete der Moderator mit seiner Produktionsfirma die „Stiftung Fliege“, um die Spenden, die häufig nach seinen Sendungen eintrafen, zu verwalten. In der ersten Sendung, in der er die Einrichtung vorstellte, bat er Hotelbesitzer darum, der Mutter eines schwerbehinderten Jungen einen Urlaub zu finanzieren, spendierte drei Pflegekindern eine Dauerkarte fürs Freibad und vermittelte einer Zwölfjährigen, deren Eltern einen Monat zuvor ums Leben gekommen waren, Ferien auf einem Pferdehof. Seit September 2002 gibt es außerdem eine Zeitschrift zur Sendung. Eine Zeit lang war auch „Flämmchen“, ein Stoffschaf zur Sendung, käuflich zu erwerben.
Mitte 1999 drohte der Bayerische Rundfunk, die Sendung nicht fortzusetzen, weil Fliege in einem Interview mit der Zeitschrift „Penthouse“ Gott als „alten Gangster da oben“ bezeichnet hatte – dem Anschein nach in dem Sinn, wie Eltern ihre Kinder liebevoll als „Räuber“ bezeichnen. Die Aufregung darüber hielt dennoch mehrere Wochen an. Auch mit Kritik an der Kirche gelangte Fliege immer wieder in die Schlagzeilen.
Ende 1995 lieferte er sich einen verbalen Schlagabtausch mit Hans Meiser. Fliege sagte: „Was bei Meisers und Ilona Christens Sendungen stattfindet, ist ein kaltes Vorführen von Menschen. Das ist Voyeurismus.“ Meiser erwiderte: „Das sind die weinerlichen Anschuldigungen eines ewigen Dritten.“ Fliege überlebte allerdings das große Talkshowsterben und überrundete alle anderen Daily Talker an Dienstjahren. Seine Quoten waren relativ konstant gut, das Publikum allerdings weit überdurchschnittlich alt.
Ab April 2005 wurde Fliege schon eine Stunde früher, um 15.00 Uhr, ausgestrahlt. In der ersten Woche auf dem neuen Sendeplatz zeigte Fliege die offensichtlich von Sendungen wie Frauentausch inspirierte vierteilige Realityshow „Pfarrertausch“, in der er eine Woche lang die Stelle und Aufgaben eines evangelischen Gemeindepfarrers übernahm.
Zeitweilige Ableger der Sendung waren Jürgen Fliege antwortet und Spurensuche mit Jürgen Fliege.