Stuttgart im Fernsehen geht normalerweise so: Der Hausmeister steht schon am Treppenabsatz und mahnt die nicht erledigte Kehrwoche an (Tatort: „Bienzle und der/die/das…“). Oder so: Eine junge Berlinerin spuckt am Stuttgarter Eugensplatz einen Kaugummi aus und sieht sich plötzlich von schimpfenden Schwaben jeder Altersklasse umgeben (Berlin Berlin, Episode „Stuttgart Stuttgart“). Letztgenannte Episode einer eigentlich sehr tollen Serie hat mich dazu gebracht, Lolle für immer abzuschalten. Schade, aber ich mag es nun mal nicht, wenn meine Stadt als derart hinterwäldlerisch und bekloppt dargestellt wird.
Jetzt hat es also der neue Tatort in der Hand, alles anders zu machen.
Und dort geht Stuttgart so: Eine Kinderleiche treibt den Neckar hinab, unter einer dieser typischen Straßenbrücken aus Beton. Hinter einem der Brückenpfeiler wacht ein Obdachloser auf, wäscht sich in der trüben Suppe und entdeckt dabei die Leiche.
Es gibt schönere Stücke Neckarufer, es gibt schönere Brücken über den Fluss, aber die erste Szene im neuen Tatort zeigt keine schwäbische Idylle, sondern ein Stück Großstadt, und hebt sich so schon nach einer Minute von den bräsig-behäbigen Bienzle-Geschichten ab.
Foto: SWR/Schweigert
Der Fall rund um das tote Mädchen, Adoptionsmafia und osteuropäische Kinderhändler ist nicht schlecht, kein Krimi-Kracher, aber in den 90 Minuten Spielzeit müssen ja auch zwei Kommissare und ein ganzes Team vorgestellt werden. Richy Müller ist Kriminalhauptkommissar Thorsten Lannert, Anfang 50, unverheiratet, kinderlos und frisch aus Hamburg nach Stuttgart gekommen. Sein Partner Sebastian Bootz (Felix Klare in seiner ersten großen Fernsehrolle) ist erst 31, trotzdem schon Hauptkommissar, verheiratet und hat zwei Kinder. Die Vitae sind natürlich auf Gegensätzlichkeit konstruiert, treten aber schon nach einer Viertelstunde wohltuend in den Hintergrund.
„Lannert und Bootz ermitteln im urbanen Ambiente einer modernen Großstadt“ heißt es in der Pressemitteilung zur Premiere, und irgendwie liest sich das wie „Stuttgart besteht nicht nur aus Volksschauspiel mit Dialektfärbung und Kehrwoche“. 22 Prozent der Stuttgarter sind Ausländer, eingebürgerte Migranten nicht mitgerechnet. Nur noch in Frankfurt und München ist die Quote höher. So gibt es eben auch im neuen Tatort die Kriminaltechnikern Nika Banovic (Miranda Leonhardt) mit bosnischen Wurzeln, Staatsanwältin Emila Alvarez (Carolina Vera) stammt aus Spanien, einer der Hauptverdächtigen ist Däne. Vielleicht wirkt dieses Multikulti ein bisschen zu gewollt, aber so sieht die Realität eben aus. Schwäbisch sprechen dürfen in diesem Tatort nur eine Obdachlose und der Gerichtsmediziner, was ähnlich fehl am Platze wirkt, wie wenn in anderen Krimis in der Pathologie ständig gegessen wird. Dafür wird sehr viel Stadt gezeigt und das ständige Namedropping der Viertel, Straßen und Plätze erinnert einen immer daran, dass man in Stuttgart ist.
Und obwohl wir ja bei den angeblich humorlosen Schwaben sind, bietet dieser Tatort erstaunlich viel Humor — kein Münsteraner Comedy-Krimi, viel mehr eine stimmige Mischung. Dazu noch eine schnell geschnittene Verfolgungsjagd, die in einem anständigen Crash endet. Hauptkommissar Lannert zerlegt nämlich schon an seinem zweiten Tag den 60.000-Euro-Mercedes der Staatsanwältin an einem Müllcontainer. Diese Staatsanwältin Alvarez erinnert an Lisa Cuddy, die Chefin von Dr. House, und sie darf, nachdem Lannert ihren Benz zu Schrott gefahren hat, den schönen Satz sagen:
Und? Haben Sie sich wenigstens verletzt?
Der neue Stuttgarter Tatort haut einen nicht um, schon gar nicht in den etwas holprig inszenierten ersten zehn Minuten, aber Lannert, Bootz und das ganze neue Team haben eine ganze Menge Entwicklungspotenzial. Ich freue mich auf den nächsten Fall, und noch mehr darüber, dass sich die Stuttgarter in Zukunft nicht mehr dafür schämen müssen, wie ihre Stadt dargestellt wird.
Tatort: „Hart an der Grenze“, Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.