Großes Ge-cenk
Der erste Hamburger Tatort der Post-Atzorn-Ära („Auf der Sonnenseite“) macht vieles, nein eigentlich alles anders.
Bild: NDR/Georges Pauly
Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) ist kein Kommissar im Trenchcoat, der anderen mit selbstgerechter Attitüde auf die Nerven geht, sondern verdeckter Ermittler. Er ist ein grundsympathischer Typ, hasst Chris de Burgh und spielt mit seinem Vater Fernschach. Außerdem läuft da irgendwas mit der Nachbarin.
Es ist eine der vielen netten Merkwürdigkeiten in diesem Tatort, dass wir in den ersten Minuten viel über Batus Privatleben erfahren, obwohl er als verdeckter Ermittler gar keines hat.
Für Humorpunkte in dem eigentlich kühl und spannend inszenierten Tatort sorgt Batus Chef, mit dem sich der Ermittler an allen möglichen absurden Plätzen trifft: In der U-Bahn, auf der Hafenrundfahrt, im Aquarium bei Hagenbeck, auf dem Parkdeck, im Schwimmbad, im Containerhafen, oder auf der schlimmsten Toilette der Welt. Nebenbei kümmert sich der Chef auch noch um Batus Fische, während der „verreist“ ist:
Batu: „Tierquäler!“
Chef: „Was?“
Batu: „Du hast meinen Fischen wieder Chris de Burgh vorgespielt!“
Die Geschichte ist schnell erzählt, aber wirklich spannend umgesetzt — und sie kommt eine Stunde lang ohne Leiche aus.
Um an den mutmaßlichen Schieber Tuncay Nezrem zu kommen, kommt Batu undercover ins Krankenhaus. Dort liegt er im Bett neben Nezrems Neffen Deniz, der eine Messerattacke verletzt überlebt hat. Seine Legende erklärt ihm Batus Chef so:
Batu: „Was hab ich eigentlich?“
Chef: „Peniskarzinom von der Größe eines Blumenkohls. Wir dachten uns, wir nehmen irgendwas Unauffälliges für Dich.“
War nur Spaß, Batu muss nur einen akuten Blinddarm vortäuschen. Dann kommt der Killer wieder, Batu rettet Deniz das Leben und kann sich der lebenslangen Dankbarkeit seitens Onkel Tuncay erfreuen. Er wird Fahrer beim Paten, und so nimmt eine spannende Undercover-Operation ihren Lauf. Nebenbei entdeckt Batu noch, dass sich seine Landsleute gegenseitig mit faulen Immobilengeschäften bescheißen:
Chef: „Ich dachte immer, Ihr Türken haltet zusammen?“
Batu: „Bei Fußball und Eurovision vielleicht.“
Erfreulicherweise entfallen die langatmigen Fahrten zum Tatort, die langweile Polizeiarbeit in muffigen Amtsstuben und die gerne in Tatorten auftretenden Laiendarsteller. Als einzige Nachteile im Leben des verdeckten Ermittlers fallen eigentlich nur die ständige Lebensgefahr ins Gewicht, und die möblierte Wohnung in Hamburg-Wilhelmsburg, die er für seine Legende beziehen muss. Sein Chef hatte sie freundlicherweise noch mit einem dieser billigen Moschee-Wecker mit Muezzin-Ruf ausgestattet.
Der selbstgefällige Dr. Specht Robert Atzorn ist also weg, Mehmet Kurtulus ist da. Und das ist sehr, sehr gut so. Ein hervorragend geschriebenes Buch, das keine der überflüssigen Dialoge nötig hat wie dieser:
– „Er ist tot!“
– „Tot, sagen sie?“
– „Ja, tot.“
– „Tot ist er?“
usw.
Dazu noch ein guter Regisseur (Richard Huber) und gute Schauspieler. Komplex, intelligent, spannend, bitte bald wieder.
(Der nächste Batu-Tatort ist laut Tatort-Fundus schon für den 13. April 2009 geplant.)
27. Oktober 2008 um 07:15
Ich hatte beim neuen „Tatort-Mann“ zunächst Sorge, daß es wieder so ein von Depressionen und Macken geprägter Kerl mit gelbviolettem Filmhintergrund wird.
Und daß die Verwicklungen so sind, daß man ein ARD-Wirtschaftslexikon braucht.
War aber nicht der Fall. Der Neue ist sympathisch, der Fall war tatsächlich spannend und gut gemacht… Auch daß es eben keinen doofen Assistenten gibt, keine supergestylte Staatsanwältin und ähnl. macht die Sache sehr angenehm. Auch daß die Kabbeleien mit seinem Chef nicht zu sehr in’s Kumpelhafte ausufern (wie bei München oder anderen Tatorten) gefällt mir gut, ebenso die leicht schrägen Momente (ich dachte, wann merkt der Chef endlich, daß Batu seinen Fünfziger eingesteckt hat…).
Mir hat es sehr gut gefallen, ich hätte direkt weitergucken können! Habe mir schon den 15. März 2009 vorgemerkt! 😉
Und Atzorn…wer vermisst Atzorn?? Nö!
27. Oktober 2008 um 07:41
[…] von mir empfohlene Tatort gestern Abend war sehr gut, sieht das Fernsehlexikon genau so. Ich freue mich auf weitere Episoden mit Cenk […]
27. Oktober 2008 um 09:09
Konnte nur gut 20 Minuten im Mittelteil sehen, aber die gefielen mir allein aufgrund der Atmosphäre und der Kamera. Da waren, völlig unaufdringlich, eine Menge Bilder drin, die ich selbst gerne einfach fotografiert hätte. Finde ich gut.
27. Oktober 2008 um 11:05
[…] sei hier nur mal auf meinen geschätzten Dünen-Nachbarn Alex und auf Niggemeiers und Reufstecks Fernsehlexikon verwiesen. Ich freue mich jedenfalls schon auf den nächsten Batu-Fall, der laut […]
27. Oktober 2008 um 11:05
Das war der verdammtnochmal beste Tatort der gefühlt letzten 5, 6 Jahre, und dass dieser ausgerechnet aus Hamburg kommen würde hätte ich mir auch nicht träumen lassen- Ich bin immer noch hin und weg.
27. Oktober 2008 um 11:07
Endlich kein blödes Drama um Kinder, keine wackligen Steadycambilder, kein Psychos, kein Story mit Leiche am Anfang, zehn Verdächtigen, und einem „Drama“ am Ende.
Sondern ein toller Story, echte Kriminelle, wunderschöne Bilder, abwechlungsreiche Lokations, richtiges Tempo, nette Seitengeschichte mit der Nachbarin, da geht noch was.
27. Oktober 2008 um 11:57
Wer ist eigentlich „Jochen“?
27. Oktober 2008 um 12:02
[…] – mal was anderes. Und um Längen cooler als der etwas dröge und selbstherrliche Robert Atzorn, meint übrigens auch das Fernsehlexikon. Bemerkenswert auch das Scooring – neben fantastischen Szenen-Kompositionen sogar rockige Elemente […]
27. Oktober 2008 um 12:10
@ BloodyFox:
Jochen ist Co-Autor des Beststellers Die kleine House-Apotheke.
Siehe auch hier und hier.
27. Oktober 2008 um 12:32
Danke für den Bericht,
besonders der „Eurovision“-Part gefällt mir 🙂
27. Oktober 2008 um 13:43
Ich fand den Tatort sehr gut. Am Ende nicht der Überhammer, aber besser als ein Großteil der übrigen Tatort-Produktionen.
Größtenteils gute Darsteller, einfache aber spannend inszenierte Story, die vom normalen Krimi-Schema (Mord – Ermittlung – Verhaftung) abweicht und am Ende waren skrupellose Deutsche und gierige Türken die Bösen. Dafür zahle ich gerne Gebühren.
Bitte mehr davon.
27. Oktober 2008 um 14:24
Respekt kann ich da nur sagen. Nach den Münsteranern ist das der zweite Tatort, der bei mir fest gebucht ist. Richtig spannend und der ist Humor herrlich trocken, ich denk da nur an die Szene im Aquarium und den milchgesichtigen Hilfskomissar der Mordkommission
27. Oktober 2008 um 14:35
Mein Mitbewohner hat so gegen 21 Uhr festgestellt, dass es noch gar keine Leiche gibt und war empört. Hätte ich gar nicht groß bemerkt, dass da noch jemand sterben muss. War auch so rischtisch spannend. Aber war ja klar, wer da noch abdanken muss.
27. Oktober 2008 um 14:48
Ich hab’s nicht gesehen. Aber ich hoffe, auch diese doofen „Kamera-kreist-mehrmals-um-zwei-sich-unterhaltende-Menschen“-Einstellungen sind nun auch weg.
Ja, ja, je älter man wird, desto empfindlicher wird man gegenüber banalem Schwachsinn.
27. Oktober 2008 um 22:31
Ein Pathologe, der sich über Empfindlichkeiten eines Neuen amüsiert, wurde von mir nicht vermißt. Nö!
27. Oktober 2008 um 23:43
Ich hatte gestern das Gefühl: Da stimmt alles. Man hat mit Mehmet Kurtulus einen Schauspieler verpflichtet, der z.B. schon in Fatih Akins „Im Juli“ überzeugte.
Erst im Nachhinein fällt auf, was alles nicht enthalten war, aber auch nicht fehlte: Kein sozialpädagogisch konstruierter Fall; kein Versuch, auf Integrationsprobleme aufmerksam zu machen; keine künstlich eingebauten Hamburger Originale, um Lokalkolorit zu versprühen; keine ständig auftauchende und nervende Familie, die vom Hauptgeschehen ablenkt; keine Frotzeleien mit Sekretärin, Staatsanwalt und Pathologe, um zu demonstrieren, dass der einsame Wolf gleichzeitig ein gaaanz toller Teamspieler ist.
Kurioserweise kehrt man mit diesem Vorgehen zurück zu den Anfängen. Denn der erste Tatort „Taxi in Leipzig“ handelt ebenfalls von einem einzelnen Kommissar, der manchmal gegen die Regeln verstößt, um das Richtige zu tun.
Beachtlich, dass man trotz all der oben erwähnten Verzichte die Zeit gut voll bekam. Allein die Herausforderung, dass der Hauptheld sich ständig irgendwo einschleichen und eine Rolle spielen musste, generierte genügend Spannung. Zum Finale wurde es sogar noch fesselnder, ohne ins Melodramatische abzugleiten oder überbordende Actionszenen zu bemühen.
Die Bilder waren jedoch völlig auf der Höhe der Zeit. Gleichzeitig waren die beiden Fälle miteinander verwoben. Das erinnert stark an KDD – Kriminaldauerdienst. Genauso gelungen finde ich den neuen Tatort.
28. Oktober 2008 um 01:08
ein extrem guter tatort!
aber dass man fast das komplette ensemble aus fatih-akin-filmen zusammengecastet hat, fiel schon irgendwie auf. naja, hat man mal wieder was von der tollen nursel köse gesehen…
28. Oktober 2008 um 10:47
Was macht diesen Krimi eigentlich zum Tatort? Der Sendeplatz? Dass eine bestimmte Redaktion für die Produktion verantwortlich ist?
28. Oktober 2008 um 10:52
@ Torsten: Der Vorspann. Im Ernst.
28. Oktober 2008 um 11:07
Michael: Was heißt das? Dass die Tatort-Reihe keinerlei dramaturgischen und sonstigen Gemeinsamkeiten aufweist außer dem Vorspann?
28. Oktober 2008 um 12:00
Richtig. Es gibt zwar viele ähnliche Tatort-Konzepte, aber offenbar keine bindenden Vorgaben mehr.
Der Tatort ist eigentlich nur der Sammelbegriff für eine ganze Reihe eigenständiger Serien. Und wenn man vor die Polizeiruf-110-Filme den Tatort-Vorspann kleben würde, würde niemand bemérken, dass das gar kein Tatort ist.
29. Oktober 2008 um 09:09
Das ist aber auch nicht unbedingt was neues. Einer der ersten Ermittler, Zollfahnder Kressin, sprang auch stark aus dem Durchschnittsmuster heraus.
Gemeinsam ist, neben Vorspann und Länge, dass es um (mutmaßlichen) Mord und die Polizeiarbeit, um diesen aufzuklären, geht.
Der Hamburger Tatort springt da insofern aus der Reihe, als dass es sich nicht um die Arbeit der Mordkommission handelt.
Wobei auch vorher schon oft andere Starftaten hauptsächlich ermittelt wurden, weild er Mord sozusagen nur nebenbei passiert ist…
Immerhin gibt es einen Tatort-Koordinator der die Sendeplätze verteilt und darauf achten soll,d ass nicht zu ähnliche Fälle kurz hintereinander kommen.
Die „Tatort“-Reihe war von Anfang an auf Vielfalt ausgelegt, eben auch gerade in den Konzepten (natürlich auh in den Orten), insofern war das eigentlich quasi schon immer so…
30. Oktober 2008 um 00:58
@jeeves
banalisiert wurde die Kreisfahrt von Leuten, die Michael Ballhaus bis heute nicht verstanden haben.
Hamburg ist im neuen Tatort erfreulich ungeschminkt. Beide kommen also gottseidank auch ohne gelb-violetten Himmel und andere Stunts – Handlung und Produktion betreffend – aus. Was im Kino oft Atmosphäre schafft, dessen Fehlen ist im Fernsehen seit einiger Zeit ein erster Hinweis auf Inhalt.
3. November 2008 um 18:48
wenn die welt immer so einfach wäre, gell?
ZITAT
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Michael,
28. Oktober 2008 um 10:52
@ Torsten: Der Vorspann. Im Ernst.
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7. November 2008 um 23:43
Schöne Kritik, wirklich. Aber wer hat denn nun dieses gute Drehbuch geschrieben?
8. November 2008 um 18:46
Thorsten Wettcke und Christoph Silber waren das.