Tagesansicht
Die Tagesschau ist mehr als doppelt so politisch wie RTL aktuell, meldet Wunschliste heute in einer Überschrift und hat bis hierher noch Recht. Erst im detaillierten Fließtext wird die Aussage fraglich: Dort steht, dass der Anteil an politischen Informationen in der ARD-Mitteilungssendung höher sei als auf dem RTL-Servicetainmentboulevard. Und das ist der Punkt: Enthält die Tagesschau wirklich so viele Informationen? Die Einblendung von Parteienlogos ist noch keine Information. Darin wäre die Tagesschau zweifellos unangefochten.
Die Botschaft, dass irgendwer irgendeine Meinung hat, auch nicht unbedingt. Denn an vielen Tagen bestehen die „Nachrichten“ aus der Zusammenfassung von Interviewaussagen, die Politiker gemacht haben, oder aus Redeausschnitten, aufgezeichnet bei davon abgesehen unbedeutenden Veranstaltungen. Guido Westerwelle würde gern die Steuern senken. Toll. Aber stellen Sie sich vor: Kann er gar nicht! SPD-Drittreiher diskutieren über die Kanzlerkandidatur. Es steht aber gar keine Bundestagswahl an! Jemand findet, Kurt Beck hat Recht. Das ist zwar erstaunlich, aber trotzdem egal. Die Information über eine Meinungsäußerung bleibt letztlich eine Meinungsäußerung, und keine Information. Und nur mal so zum Verständnis der Bemessungsgrundlage: Gilt es eigentlich schon als Politik, wenn Angela Merkel ein Band durchschneidet, um eine Messe zu eröffnen?
Viele der so genannten politischen Informationen tragen eher zur Desinformation bei. Da macht einer, der nichts zu bestimmen hat, einen abstrusen Vorschlag, der keine Chance auf Durchsetzung hat, aber trotzdem gemeldet wird, und beim durchschnittlichen Zuschauer bleibt hängen: „Hast du gehört, was die jetzt schon wieder Bescheuertes vorhaben? Die spinnen doch alle!“ Daraus folgt eine Verdrossenheit mit der Politik, die eigentlich eine Verdrossenheit mit dem Meldewesen sein sollte.
Man muss natürlich einräumen, dass die Tagesschau der einzige Platz ist, an dem man nacheinander über die Wahlen in Paraguay, eine Festnahme in Indonesien und Oppositions-Demonstrationen in Indien unterrichtet wird, wenn man nicht den Deutschlandfunk hört, dessen Nachrichten in der Regel frei von Deutschland-Themen sind. Und es behauptet ja auch keiner, dass es bei RTL aktuell mehr Informationen gibt. Da ging es heute zum Beispiel darum, was passiert ist, als bei einem Flugzeug in Amerika der Blitz einschlug (nämlich nichts) und eine ganz allgemeine Panikmache, was alles passieren kann, wenn mal bei einem Flugzeug, in dem wir sitzen, der Blitz einschlägt (nämlich nichts). Aber es gab tolle Bilder vom Blitzeinschlag, und in der Zeit mussten sie schon kein Parteienlogo einblenden.
Man sollte schlicht den tatsächlichen Informationsgehalt der Tagesschau nicht zu hoch einschätzen. Eine Information ist es nur dann, wenn sie auch beim Konsumenten ankommt. Denn amüsieren wir uns nicht alle paar Jahre köstlich über das Umfrageergebnis, dass die Mehrheit der Zuschauer die Tagesschau gar nicht versteht (z.B. 2003 und 2007)?
Anderseits versteht auch niemand Lost, und darüber hat sich noch niemand beklagt.
21. April 2008 um 23:14
Das ist jetzt verdammt schwer, darüber was zu schreiben, ohne in ein allgemeines “früher wr alles besser” zu verfallen…
Wenn man sich die “Tagesschau vor 20 Jahren” anschaut, kann man sich die Anfänge der Entwicklung anschauen, die dazu führte, daß die Politik-Nachrichten immer mehr aus der bloßen Wiedergabe von für die Medien inszenierten Veranstaltungen und dafür vorbereiteten Zweizeiler-Zitaten bestehen. Gerade der gestiegene Aktualitätsdruck führ halt dazu, daß so was wie Recherche in den Tagesmedien kaum noch stattfindet. In einem Ratgeber für die Pressearbeit von Parteien stand vor einigen Jahren der Satz “Der Kampf zwischen Journalismus und PR ist längst zugunsten der PR entschieden”
22. April 2008 um 01:42
Re: “wenn man nicht den Deutschlandfunk hört, dessen Nachrichten in der Regel frei von Deutschland-Themen sind. ”
Ähhh, ist jetzt nicht wirklich ernst gemeint, oder? Mal grad eben die 23h-Nachrichten rausgesucht [1]
– SPD stellt Weichen für Bahn-Privatisierung
– Merkel lehnt Renten-Vorstoß von Rüttgers ab
– Große Koalition einig beim Thema Mitarbeiterbeteiligung
– Erneut Warnstreiks bei der Post
– Verlagerung von Jobs in Billiglohnländer trifft vor allem gering Qualifizierte
– Gewaltsame Proteste in Kalkutta gegen hohe Nahrungsmittelpreise
(danach geht es um Nahrungskrise, Paraguay, Simbabwe, Hamas, Indonesien, China, Hannover-Messe und Wall Street)
Der Deutschlandfunk ist einer der schlimmsten in Sachen “Verlautbarungsjournalismus”, macht es aber mit der Länge seiner Nachrichten und Wortsendungen wieder wett.
Was in Deutschland auffällt, ist eine sehr starke Referentialität bzgl. Politiker. Dieser und jener hat was gesagt und ist schon Thema. Zwei Stunden später sagt die andere Partei was dazu, wieder in den Nachrichten und nochmals ne Stunde später haben auch die Gewerkschaften eine Meinung zu sagen. Sehr schön auch am Deutschlandfunk zu beobachten, wo in den “Informationen am Morgen” irgendwelche Hinterbänkler sich um halb sieben Uhr morgen anrufen lassen um die Agenda zu setzen. In den “Informationen am Mittag” reagiert irgendein anderer Politiker auf das Statement vom Morgen und in “Das war der Tag” wird ein Experte dazu eingeladen, der sich häufig “Christian Pfeiffer” nennt und wahlweise Comics, Videospiele, Nazis oder alleinerziehenden Müttern im Osten die Schuld gibt. Egal woran. Selbstreferentialität galore.
Gerade wenn man “Newsnight” von BBC Two gegenhält, wird einem deutlich, was dem deutschen Fernsehen fehlt: eine längere (50min) Nachrichtensendung die keine Scheu hat, intensive Themenschwerpunkte zu setzen, die auch mal 20 Minuten dauern können. Von mir aus kann sowas ruhig auf einen der hinteren Digitalkanäle wie EinsExtra stattfinden. Von den knackigen Anmoderationen und den gut gemachten Beiträgen ganz zu schweigen.
Da setzt ARD Aktuell lieber auf nichtssagende, stündliche Drei-Minuten-Tagesschauen.
Auf der anderen Seite hat die BBC in ihren normalen Nachrichtensendungen keine Scheu in Sachen Boulevard mit SKY News gleichzuziehen. Was da z.B. auf BBC News 24 in Sachen Madeleine ablief, war schon herb. Da wird dann auch schon mal stundenlang von der Ankunft der McCanns auf dem Flughafen berichtet und das Auto auf dem Nachhauseweg per Helikopter verfolgt.
[1] http://www.dradio.de/nachrichten/
22. April 2008 um 09:46
also irgendwie muss die viertelstunde ja voll werden, wenn man nicht 7 minuten was über den sack reis in china hören will.
22. April 2008 um 11:40
@ dogfood: Natürlich war die Bemerkung zum Deutschlandfunk nicht ganz ernst gemeint. Dort hört man zwar so viele Auslandsmeldungen wie nirgendwo sonst an so prominenten Stellen wie nirgendwo sonst, aber natürlich nie ohne die von Dir geschilderten meist unbedeutenden Deutschland-Verlautbarungen.
Darüber hinaus gebe ich Dir in allen Punkten Recht.
Knackige Anmoderationen können allerdings auch Claus Kleber und Tom Buhrow ganz gut.
22. April 2008 um 18:12
Also ICH verstehe Lost sehr wohl 😉
22. April 2008 um 19:52
Durch einen Fehler meinerseits sind hier leider einige Kommentare verloren gegangen. Ich bitte um Entschuldigung!
23. April 2008 um 02:28
Wer Nachrichten lieber vorgekaut und gefiltert empfängt, möchte bitte bei den wertenden Meinungsmachern der Privatsender bleiben (ja, damit sind ebenfalls N24 & Co gemeint). Alle die sich hingegen selbst dazu befähigt fühlen, die relevanten Politikeraussagen von den weniger relevanten zu trennen, eine kompakte Meldung eigenständig zu abstrahieren und zu bewerten, um aus den verschiedenartigen Aussagen eine eigene Meinung zu bilden, sind bei einer der letzten halbwegs neutralen Nachrichtensendungen im deutschen Fernsehen sicherlich weiterhin gut aufgehoben. Fakt ist, dass die „Tagesschau“ neben der Wiedergabe von aktuellen gesellschaftlich-politischen Diskussionen, deren tatsächliche und nachhaltige Relevanz im seltensten Fall zum Zeitpunkt eben dieser bestimmt werden kann, ebenso Gesetzesvorlagen und -änderungen, sowie alle weiteren Aspekte des heutigen Politikbegriffs aus wissenschaftlicher Perspektive, beleuchtet, so weit es im Rahmen einer 15-minütigen Ausstrahlung inklusive gesellschaftlich relevanter, kultureller und meteorologischer Meldungen möglich ist. „Knackige Anmoderationen“ werden dabei nicht reaktionärerweise, sondern wegweisend als überflüssiges Produkt einer, in der medial überforderten Gesellschaft begründeten Abnahme der zuschauerseitigen Aufmerksamkeitsspanne ignoriert.